Interview Andreas Jopp mit Prof. Pietrizik, Institut für Ernährungswissenschaft der Univerisität Bonn

A.Jopp Was ist Schwerpunkt Ihrer Forschung? Was macht Vitamine so spannend?

Prof. Pietrzik: Ich arbeite seit 30 Jahren am Institut für Ernährungswissenschaft der Universität Bonn. Der Schwerpunkt meiner Forschung sind Mikronährstoffe- speziell die B-Vitamine. Das spannende an Vitaminen ist, dass man auch nach deren Entdeckung zu Beginn des letzten Jahrhunderts immer wieder neue Wirkungen entdeckt. Früher ging es darum, Mangelsymptome zu verhindern. Heute darum, präventive, das heißt vorbeugende Wirkungen auszuschöpfen, die mit Herzkreislauferkrankungen, aber auch Alzheimer und Demenzerkrankungen verbunden sind.

A.Jopp: Werden die Ergebnisse aus der Forschung der Ernährungswissenschaft zu Übergewicht, Blutdruck oder Herzkreislauferkrankungen ihrer Bedeutung entsprechend in der ärztlichen Praxis berücksichtigt?

Prof. Pietrzik: Bei der Umsetzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen in die Praxis vergehen üblicherweise 10 Jahre. Dazu müssen Sie wissen, dass Forschung zuerst einmal zu Lehrbuchwissen werden muss. Nehmen Sie das Beispiel Homocystein. Ich forsche auf diesem Gebiet schon seit 15 Jahren und erst die neueren Lehrbücher für Innere Medizin berücksichtigen überhaupt das Homocystein, gerade einmal auf einer halben Seite.

A. Jopp: Und wie steht es um die Ernährungsausbildung der Ärzte?

Prof. Pietrzik: Bedauerlicherweise wird im ärztlichen Studium in Deutschland zu wenig Wert auf die Grundlagen der Ernährung gelegt. Selbstredend werden Vitamine in ihrer Funktion im Rahmen des Grundstudiums behandelt. Aber in der weiteren Ausbildung treten diese wichtigen Mikronährstoffe nicht mehr in Erscheinung. Die meisten praktischen Ärzte wissen gar nicht so ganz genau wie einzelne Vitamine arbeiten und wofür Sie gut sind. Die neueren Nährstoffstudien sind den meisten überhaupt nicht bekannt. Man trifft da meist auf ein recht allgemeines Wissen, etwa dass man genügend Vitamine über die Nahrung zuführen sollte. Das sollte der Patient wissen, wenn er mit dem Arzt über Vitamine spricht und eine abweisende Haltung vorfindet.

A. Jopp: In wie weit sind wir unterversorgt mit Folat?

Prof. Pietrzik: Unsere gesamte Bevölkerung ist nicht optimal mit Folat versorgt. Über die Hälfte der Bevölkerung liegen sogar 75% unter der gewünschten Zufuhr. Das liegt einfach daran, dass wir nicht 5 Portionen Obst und Gemüse am Tag verzehren….und das tut praktisch niemand.
Folat ist nun mal bevorzugt in Obst und Gemüse. Es wurde 1940 aus Blattspinat isoliert. „Folium“ – lateinisch „das Blatt“ hat dem Vitamin seinen Namen gegeben.

A.Jopp: Insgesamt decken 90% der Bevölkerung die Minimum Folatzufuhr nicht. Ist der Anspruch der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE), die Bevölkerung umzuerziehen, nicht sehr unrealistisch?

Prof. Pietrzik:Das ist völlig richtig. Denn die Folate in Lebensmitteln sind sehr empfindlich. Beim Kochen und Lagern werden die Folate zerstört. Das ist anders mit der synthetischen Folsäure, die absolut stabil ist. Auch, wenn damit Nahrungsmittel angereichert werden, wird die Folsäure durch die Nahrungszubereitung oder beim Backen nicht zerstört.
Zwar ist es nicht von der Natur vorgesehen, dass wir in ein Nährstoffdefizit gelangen und die Natur hat es auch nicht darauf angelegt, dass wir in Apotheken gehen müssen. Auf der anderen Seite gibt es Lebensmittel, die zwar folatreich sind, die wir aber aus anderen Gründen nicht mehr essen. So ist etwa Leber das folatreichste Lebensmittel, aber aufgrund von Schadstoffbelastungen und hohem Vitamin-A-Gehalt wurde vom regelmäßigen Verzehr von Leber abgeraten.

A.Jopp: Selbst die DGE gibt zu, dass es Frauen „kaum möglich ist, den Mehrbedarf an Folat über die normale Ernährung zu decken“1. Auch bei Kindern schafft man es ohne Anreicherung nicht mehr. Sollten Frauen zwischen 14-45 Jahren Folsäure zusätzlich einnehmen?

Prof. Pietrzik: Man kommt nicht umhin, bei einer derartigen Mangelsituation über Folsäureanreicherung ernsthaft nachzudenken. Das wird inzwischen in mehr als 30 Ländern weltweit gefordert. In USA, Kanada, Brasilien und Chile ist es bereits gesetzlich umgesetzt. In Europa stehen Österreich, England und Irland vor der Einführung einer Anreicherung von Grundnahrungsmitteln. In Deutschland wird nur diskutiert, aber es wird praktisch nicht umgesetzt.

A.Jopp: Die Forschung liegt seit über 20 Jahren auf dem Tisch und die Anreicherung von Grundnahrungsmitteln ist seit 1998 in den USA gesetzlich vorgeschrieben. Warum braucht die DGE immer so lange?
Prof. Pietrzik: Das hat sich ja in dem Punkt nun geändert. Übereinstimmend wird jetzt die Auffassung vertreten, dass man einer Anreicherung zustimme solle. Dies ist jedoch aus politischen Gründen offensichtlich nicht gewollt oder auch nicht durchsetzbar. Dabei kann man alles wenn man nur will! Statt dessen versteckt man sich hinter Artikel 2 des Grundgesetzes, der besagt: „Jeder hat das Anrecht auf körperliche Unversehrtheit und individuelle Entfaltungsmöglichkeit“. Die Juristen sind also der Meinung, dass Artikel 2 und damit die individuelle Entfaltungsmöglichkeit nicht mehr gewährleistet seien, wenn eine Zwangsanreicherung von Grundnahrungsmitteln durchgeführt würde. Aus diesem Grunde ist damit nicht so schnell zu rechnen.

A.Jopp: Das ist sehr deutsch. Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht. Das hatten wir schon beim Nichtraucherschutz. Oder beim Jodmangel, der jährlich 1 Milliarde Euro Kosten durch Schilddrüsenproblemen verursacht. Schon 1 Kilometer hinter der Schweizer Grenze sind die Kropfbildung und die Schilddrüsenprobleme fast unbekannt, weil gesetzlich vorgeschrieben jodiert wird. In Deutschland gibt es selten ein Erkenntnisproblem, sondern viel zu oft ein Umsetzungsproblem. Wird es also noch einmal 20 Jahre dauern?

Prof. Pietrzik: Der Bundesrat hat die Bundesregierung aufgefordert, eine Folsäure-Aufklärungskampagne zu starten…..

A. Jopp: Wie viele Kinder werden bis dahin noch mit Neuronaldefekt abgetrieben werden müssen oder geboren werden?

Prof. Pietrzik: Man geht von 700-1400 Neuronalrohr-Defekten pro Jahr aus. Circa die Hälfte davon wird rechtzeitig erkannt und dann nach entsprechender Aufklärung und Abstimmung gegebenenfalls eine Abtreibung eingeleitet. Viele Fälle werden auch nicht erkannt. Und man kann hochrechnen, dass etwa 400-500 Kinder mit schweren Behinderungen geboren werden und lebenslanger Pflege bedürfen.

A.Jopp: Über 10 Jahre gerechnet, also seit der Einführung in den USA, hätten man mit ein paar Mikrogramm Folsäure 14000 Kinder mehr und 14000 tragische Familienschicksale weniger in Deutschland gehabt. Interessant für ein Land, in dem der Staat sonst mit viel Geld förmlich um Kinderreichtum bettelt.…
Prof. Pietrzik: Eine Anreicherung von Grundnahrungsmitteln und Aufklärung sind dringend notwendig!

A. Jopp: Auf Beipackzetteln von Nahrungsergänzungsmitteln dürfen bekanntlich keine Aussagen über die Wirkungsweisen von Vitaminen gemacht werden, obwohl weltweit wichtige Studien zu Vitaminen ausgewertet wurden, die solche Aussagen rechtfertigen würden.

Prof. Pietrzik: Es wäre sicherlich sinnvoll, auch auf den Beipackzetteln mehr über Vitamine informieren zu können. Andererseits bedürfen medizinische Aussagen zu Vitaminen einer Arzneimittelzulassung. Dafür sind wiederum teure Studien notwendig, Geld, das keine Pharmafirma für ein nichtpatentierbares Vitamin in die Hand nehmen würde.

A.Jopp Die gute Vitamin- bzw. Folatversorgung vermindert das Risiko von Herzkreislauferkrankungen bei Gesunden…

Prof. Pietrzik:Ja, das haben einschlägige Studien aus den USA und Kanada gezeigt. Hier werden schließlich seit 1998 die Grundnahrungsmittel mit Folsäure angereichert. Die Ergebnisse zeigen auch, dass es innerhalb weniger Jahre zu einem statistisch bedeutsamen Abfall der Anzahl von Schlaganfällen gekommen ist. Diese Daten basieren immerhin auf einer Bevölkerungsgruppe von 250 Millionen Menschen.

A.Jopp: In der Vorbeugung von Herzkreislauferkrankungen bei Gesunden funktioniert zusätzliche Folsäure ja sehr gut. Ich habe immer den Eindruck, dass Patienten, die bereits eine Erkrankung haben, das Potential von Vitaminen zur Reparatur von Schäden überschätzen. Vitamine wirken mehr in der Verhinderung von Erkrankungen anstatt als therapeutische Medikamente.

Prof. Pietrzik:Das kann ich bestätigen. Aber auch dazu gibt es noch interessante Studien, z.B. solche, die sich mit Ablagerungen an den Arterien beschäftigen. Hier konnte gezeigt werden, dass es durch Vitamingabe zu einer Verminderung der Ablagerungen kommt. Andere Studien zeigen, dass die Gefäßwanddicke nach Folsäure-Behandlung günstiger ausfällt als nach reiner Placebo-Behandlung. Es ist also durchaus denkbar, dass auch bei bereits erkrankten Patienten noch positive Effekte entstehen.

A.Jopp: Ein weiterer Schwerpunkt Ihrer Arbeit liegt auf dem Zusammenhang zwischen B-Vitaminen und dem geistigen Abbau – der Demenz- im Alter. Sind Ältere mit B12 generell unterversorgt und läßt sich hier mit Vitaminen vorbeugen?

Prof. Pietrzik: Sowohl als auch. Das Problem ist das Folgende: bis zu 30% aller über 60-Jährigen entwickeln eine Gastritis. Es steigt der pH-Wert im Magen. Und dann ist es nicht mehr möglich, Vitamin B12 aus der Eiweißbindung zu lösen und aufzunehmen. Auf diese Weise entwickeln viele einen Vitamin-B12-Mangel, selbst wenn sie B12 mit der normalen Nahrungsaufnahme zuführen. Es macht daher viel Sinn, bei älteren Menschen Vitamin B12 extra zuzuführen. Da sind sich die Fachleute einig.
In den USA wird inzwischen überlegt, neben der Folsäureanreicherung auch mit Vitamin B12 anzureichern. Das macht Sinn. Denn Folsäure und B12 sind gemeinsam am Homocysteinstoffwechsel beteiligt. Und Älteren mangelt es häufig an beidem. Das führt zu erhöhten Homocysteinspiegeln und diese sind verantwortlich für das Fortschreiten von Gefäßschäden, auch im Gehirn.

A.Jopp: Und wie funktioniert das genau?
Prof. Pietrzik:In der Folge kommt es zu Schäden an den kleinen Gefäßen im Gehirn. Das führt zu Minderdurchblutung, und das bedeutet auch eine verminderte Nährstoffversorgung. Dadurch kommt es zu Mikroinfarkten mit entsprechenden Leistungseinbußen geistiger Art. Diese Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit mit Ursprung im Gefäßsystem läßt sich nur schwer von den Einschränkungen durch Alzheimer unterscheiden. Offenbar gehen beide Prozesse parallel.

A. Jopp: Außer Demenz spielen auch Depressionen bei Älteren eine große Rolle. B-Vitamin-Mangel und Nervenbotenstoffe hängen eng zusammen…
Prof. Pietrzik:Die B-Vitamine sind direkt am Aufbau der Nervenbotenstoffe beteiligt. Außerdem sind die B-Vitamine für die Produktion von Cholin, Acetylcholin, also Bausteinen für Nervengewebe und Nervenleitung notwendig. Dementsprechend ist es nicht verwunderlich, dass bei einem Mangel entsprechende Ausfallserscheinungen beobachtet werden.

A. Jopp: Wie kommt es, daß man in der Presse häufiger Negativschlagzeilen über Vitamine lesen kann als positive Nachrichten?
Prof. Pietrzik: Da gibt es Erstaunliches zu beobachten, was selbst mich als neutralen Wissenschaftler verblüfft. Vor allem zu nennen die Geschwindigkeit, in der Vitamin-Studien, wenn sie denn mal mit negativen Ergebnissen daherkommen, verbreitet werden. Zum Beispiel die NORVIT Studie: Quasi sofort wurde dazu eine Pressekonferenz einberufen und gesagt, die Homocysteintheorie sei tot. Zwei Tage später schon brachten es die Zeitungen. Am selben Tag erschien allerdings ebenfalls die Studie aus Nordamerika, die zeigte, dass es zu einem bedeutsamen Abfall von Schlaganfällen durch die gesetzliche Folsäureanreicherung kam. Darüber wurde jedoch in der Öffentlichkeit nicht berichtet. Es erstaunt also, wie die Dinge platziert werden. Auch, dass negative Ergebnisse immer zuerst publiziert werden und ein entsprechendes Presseecho erhalten. Für positive Ergebnisse interessiert sich dort kaum jemand, und die normalen Leser können das natürlich nicht erkennen oder wissen. Sie lesen die negativen Schlagzeilen, die auch im deutschen Ärzteblatt erscheinen und sind natürlich leichtgläubig in dem Punkt.

A.Jopp: Ja, es ist in der Tat eine allgemeine Tendenz zu beobachten, dass die Gefahr der Überdosierung der B-Vitamine immer stärker betont wird, als zum Beispiel der positive Effekt auf die Herzkreislauferkrankungen…

Prof. Pietrzik: Was natürlich blanker Unsinn ist. Überdosierungen von Vitamin B12 sind unbekannt. Ebenfalls ist eine Überdosierung von Folsäure vollkommen untoxisch. Das einzige, was hierzu in der wissenschaftlichen Literatur vor 50 Jahren beschrieben wurde, war, dass man durch hohe Gaben von Folsäure die Symptome eines Vitamin-B12-Mangels zum Verschwinden bringen kann. Das ist aber zuletzt in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts beobachtet worden, als man Folsäure noch in extremen Hochdosismengen einsetzte. Solche Dosierungen nimmt Niemand. Seitdem ist auch kein Bericht mehr darüber in der wissenschaftlichen Fachliteratur erschienen. Es ist also sehr zweifelhaft, mit solchen Argumenten hausieren zu gehen und zu behaupten, B-Vitamine seien gefährlich.

A.Jopp: Ich danke Ihnen für dieses aufschlussreiche Interview.